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Patientenverfügungen

Patientenverfügungen

29. März 2007

 

Präsident Dr. Norbert Lammert:

 

Das Wort erhält nun die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

 

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

 

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Würde des Menschen ist unantastbar - so der Art. 1 unseres Grundgesetzes. Aber wie steht es um die Würde alter und kranker Menschen in unserem Lande? Viele können in Pflegeheimen nicht in Würde leben, andere in Krankenhäusern nicht in Würde sterben. Eine halbe Million Menschen wird in Heimen dauerhaft künstlich ernährt, oft ohne medizinische Indikation oder gegen ihren Willen.

 

(Zustimmung der Abg. Monika Knoche [DIE LINKE])

 

In Krankenhäusern werden häufig Menschen durch die Intensivmedizin am Sterben gehindert.

 

"Es hängt immer weniger von den Krankheiten selbst ab, wann der Tod eintritt, sondern von medizinisch-ärztlichen Maßnahmen", sagt der Berliner Palliativmediziner Professor Christof Müller-Busch. So seien Sterben und Tod zu einer medizinischen Aufgabe geworden, und das Sterben in medizinischen Institutionen sei letztendlich immer nur dann möglich, wenn auf Maßnahmen verzichtet werde, die zu einer - wenn auch begrenzten - Lebensverlängerung beitragen könnten.

 

Aber gerade diese Verzichtentscheidung stellt an alle hohe ethische Anforderungen. Solange ein einwilligungsfähiger Mensch sich äußern kann, kann er oder sie jederzeit einen ärztlichen Eingriff ablehnen, selbst dann, wenn als Folge der Ablehnung der Tod eintritt. Das deutsche Recht stellt das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper höher als die Schutzpflicht anderer über sein Leben. Das heißt, niemand hat das Recht, gegen den Willen eines Patienten oder einer Patientin eine Behandlung durchzusetzen; ansonsten macht er sich strafbar.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

 

Das Selbstbestimmungsrecht bildet auch die Grundlage dafür, im Voraus Verfügungen über gewünschte oder unerwünschte Behandlungen für den Fall einer Einwilligungsunfähigkeit festzulegen. Die Verbindlichkeit solcher Verfügungen wurde vom Bundesgerichtshof im Jahre 2003 ausdrücklich bestätigt. Ungefähr 8 Millionen Menschen haben davon Gebrauch gemacht.

 

Trotzdem herrscht nicht nur in der Bevölkerung große Unsicherheit. Es existiert auch viel Unkenntnis in der Medizin und bei den Gerichten. Bei einer Umfrage hielten die Hälfte der Ärzte, aber auch ein Drittel der Vormundschaftsrichter die von einer Patientin gewollte Beendigung der künstlichen Beatmung für strafbare aktive Sterbehilfe. Auch darum sind wir im Bundestag aufgefordert, die Patientenautonomie am Lebensende durch gesetzliche Regelungen zu stärken und Rechtssicherheit zu schaffen.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

 

Meine Vorredner haben es gesagt: Das bedeutet nicht den Einstieg in die aktive Sterbehilfe, wie das in der Vergangenheit vielfach behauptet wurde. Es stimmt auch nicht, dass jede Verfügung eins zu eins umgesetzt wird; denn nur unter vier Voraussetzungen ist eine Patientenverfügung überhaupt wirksam. Erstens. Die in der Verfügung beschriebene Situation stimmt mit der konkreten Situation überein. Zweitens. Der Wille ist aktuell, und es gibt keine Anzeichen einer Willensänderung. Drittens. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass diese Verfügung unter Druck entstanden ist. Viertens. Es wird keine aktive Sterbehilfe verlangt.

 

Anstelle einer lebensverlängernden Therapie muss dann eine gute palliativmedizinische und pflegerische Versorgung in den Vordergrund treten, wie sie auch in vielen Hospizen geleistet wird.Ich habe den Eindruck, bis dahin sind wir uns in diesem Hause einig.

 

Aber die in den letzten Monaten mit großer Heftigkeit geführte Auseinandersetzung drehte sich doch darum, ob eine solche Patientenverfügung nur für den Fall Gültigkeit haben darf, dass das Leiden einen irreversibel tödlichen Verlauf haben wird, wie es auch der Vorschlag des Kollegen Bosbach vorsieht. Genau wie vor kurzem drei Viertel der Befragten in einer Forsa-Umfrage sage ich dazu: Nein. Wenn ein einwilligungsfähiger Mensch lebensverlängernde Maßnahmen ablehnen kann, muss dieser Wille auch geachtet werden, wenn die gleiche Person ihn im Voraus für eine bestimmte Situation festgelegt hat, in der sie keine Einwilligung mehr geben kann.

 

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

 

Achtet man den Willen, der aus einer Patientenverfügung hervorgeht, nur im Falle eines tödlichen Verlaufs des Leidens, dann bedeutet das für alle anderen eine unerlaubte Zwangsbehandlung. Eine Begrenzung der Reichweite auf Personen mit einer irreversibel tödlichen Krankheit lässt sich meines Erachtens nicht rechtfertigen. Sie wirft nicht nur große medizinische Probleme auf, wie uns in den letzten Tagen die Bundesärztekammer deutlich gemacht hat; sie wäre meines Erachtens auch ethisch ohne Begründung und verfassungsrechtlich unhaltbar. Bevor wir ein solches Gesetz beschließen, sollten wir wirklich ganz darauf verzichten;

 

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)

 

denn unser Grundgesetz verbietet jede Beschränkung der Selbstbestimmung, die nicht in der Verletzung anderer begründet ist. Darum darf es keine Reichweitenbeschränkung geben. Ich erinnere, wie vorhin der Kollege Kauch, an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2002 zu einem Angehörigen der Zeugen Jehovas, der eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnte. Das gilt nicht nur in der aktuellen Situation, sondern das gilt auch, wenn diese Person nicht mehr äußerungsfähig ist. Das wird akzeptiert, und ich frage Sie: Warum soll ein religiös begründetes Behandlungsverbot eines Zeugen Jehovas bedingungslos akzeptiert werden, wenn man es für alle anderen Weltanschauungen unter eine Bedingung stellt? Das ist doch wirklich nicht nachvollziehbar.

 

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der SPD und der FDP)

 

Die Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht wirkt immer sehr formal. Fragt man die Menschen, wie sie sich ihr Sterben vorstellen, so wünschen sich die meisten einen Abschied vom Leben in Würde, ohne Schmerzen und im Beisein nahestehender Menschen. Zur Würde kann neben einer einfühlsamen Behandlung das Respektieren des Willens in einer Patientenverfügung beitragen. Die Schmerzen können durch die Palliativmedizin weitgehend ausgeschaltet werden. Die Nähe von liebenden Menschen aber bleibt ein Ziel.

 

Vielen Dank.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])

 

 



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