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Rente mit 67

30. November 2006

 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

 

Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

 

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema Rente ab 67 stellt hohe Anforderungen an unser Erkenntnisvermögen. Heute eine Entscheidung zu treffen, die erst in 23 Jahren voll wirkt, sich vorzustellen, wie im Jahr 2029 der Arbeitsmarkt aussehen wird, das ist schon eine Herausforderung. Sofort kommen Ihre Einwände, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, es gebe nicht genügend Arbeitsplätze für Ältere. Das stimmt - heute. Aber heute gilt auch nicht die Rente mit 67.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

 

Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken, die heutige Situation mit der im Jahre 2029 gleichsetzen, dann verschließen Sie die Augen vor der demografischen Entwicklung:

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

 

2029 wird die Lebenserwartung im Vergleich zu heute um vier Jahre gestiegen sein. 2029 wird es 8 Millionen weniger Menschen im Erwerbsalter geben. Aber was kümmert Sie schon die Realität, wenn Sie ein geschlossenes Weltbild haben.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

 

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

 

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schneider?

 

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

 

Bitte schön.

 

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE):

 

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben eben "Aber was kümmert Sie …" gesagt. Ich weiß nicht, ob Sie mir eben richtig zugehört haben.

 

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Doch!)

 

Die Zahlen in Bezug auf den Arbeitsmarkt - es gibt einen Bedarf an 3 Millionen zusätzlichen Arbeitsplätzen - sind einer Studie der IAB der Bundesagentur für Arbeit entnommen. Aus dieser Studie habe ich zitiert. Das ist nicht auf dem Mist der Linken gewachsen.

 

(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben falsche Schlüsse gezogen!)

 

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

 

Diese IAB-Studie kenne ich selbstverständlich. In ihr werden Pro und Kontra der Rente mit 67 behandelt. Die Autoren dieser Studie kommen zu dem Schluss, die Rente mit 67 sei akzeptabel, wenn der Arbeitsmarkt in Ordnung sei.

 

(Andrea Nahles [SPD]: Eben!)

 

Wir wissen: 8 Millionen Menschen weniger im Erwerbsalter, das bedeutet natürlich eine enorme Entlastung für den Arbeitsmarkt. Für uns ist es schon ein Problem, dass immer weniger Junge immer mehr Älteren gegenüberstehen. Ich spreche vom Jahr 2029 mit circa 8 Millionen Erwerbsfähigen weniger. Ihre Zahlen sind so nicht in Ordnung.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

 

Ihnen ist offensichtlich auch nicht aufgefallen, dass die Beschäftigung der über 55-Jährigen in den letzten sechs Jahren stetig gestiegen ist. Wir Grüne erwarten, dass dieser positive Trend anhält. Das ist für uns eine Voraussetzung der Rente mit 67.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Die in früheren Jahren gewachsene Unterbeschäftigung Älterer wird so nicht bleiben. Eine wichtige Ursache hierfür ist - das wissen auch Sie - die Frühverrentung in Deutschland gewesen, die zur Krise der Rentenversicherung wesentlich beigetragen hat. Lange Zeit zogen viele einen vermeintlichen Nutzen daraus: Beschäftigte, die die Freiheit des Ruhestands länger genießen konnten, Unternehmen, die sich auf Kosten der Rentenversicherten ihrer älteren Mitarbeiterschaft entledigten, Politik und Gewerkschaften, die ihr Gewissen beruhigten, weil sie glaubten, etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit zu tun und den Jüngeren eine Chance zu geben. Aber das Gegenteil war doch der Fall. Dieser Weg ist eine Sackgasse.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

 

Es trifft nicht zu, dass das frühe Renteneintrittsalter Arbeitsplätze für Jüngere schafft. In Ländern, in denen mehr Ältere erwerbstätig sind, ist auch die Arbeitslosigkeit von Jüngeren niedrig.

 

Besonders erstaunlich, Herr Schneider, ist die Behauptung der Linken, die Finanzkrise der Rentenversicherung habe nichts mit der Demografie zu tun. Sie machen es sich leicht!

 

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das hat kein Mensch gesagt!)

 

Sie ignorieren, dass in den letzten 40 Jahren die Rentenbezugsdauer um sieben Jahre gestiegen ist. Sie ignorieren, dass der reale Wert der Rentenleistung dadurch um 74 Prozent erhöht ist. Erhielt 1960 ein Durchschnittsrentner Leistungen im Wert von 140 000 Euro, so sind es heute 244 000 Euro. Da stellt sich schon die Frage: "Wer soll und kann das bezahlen?", zumal aufgrund der niedrigen Geburtenrate die Zahl derjenigen, die Beiträge zahlen, stetig sinkt, während die Zahl der Rentner und Rentnerinnen steigt.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

 

Ein Weg, diese Kosten aufzufangen, ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters bei denen, die gesundheitlich dazu in der Lage sind. So können die Beiträge einigermaßen stabil gehalten werden. Je mehr Beschäftigte ihre Zeiten als versicherte Beschäftigte ausdehnen, desto günstiger wird das Verhältnis der Zahl der Rentenempfänger zur Zahl der Beitragszahler.

 

Diese Chancen für zukünftige Rentner und Rentnerinnen hat die Linke offensichtlich nicht verstanden. Ich verweise auf ein Gutachten von Professor Bomsdorf. Er hat nachgewiesen, dass der Anstieg des gesetzlichen Rentenzugangsalters nicht zwangsläufig zu Rentenkürzungen führen muss; denn wer aufgrund eines unsteten Erwerbsverlaufs - davon gibt es viele - oder eines späteren Eintritts in das Erwerbsleben länger arbeiten kann und will, hat die Chance, eine höhere Rente zu erreichen. Der Grund dafür: Die Wirkung des Nachhaltigkeitsfaktors wird reduziert.

 

Wir alle wissen: Ältere Beschäftigte sind heute im Durchschnitt gesünder und leistungsfähiger als Gleichaltrige in früheren Jahren. Der altersbedingte Rückgang der Leistungsfähigkeit kann durch Erfahrungswissen ausgeglichen werden. Viele Ältere wollen auch nicht aufs Altenteil gedrängt werden. Sie wollen einen flexiblen Renteneintritt. Diese Älteren - Herr Kolb, damit komme ich zu Ihrem Beitrag - empfinden die heutigen starren Altersgrenzen in Tarif- und Arbeitsverträgen als diskriminierend, wie die Klage der Lufthansa-Piloten zeigt.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

 

Aber hier ist nicht die Politik gefordert. Hier sind die Tarifparteien gefordert, die Arbeits- und Tarifverträge zu ändern.

 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Diskriminierung kommt aus Gesetz und Tarifvertrag!)

 

Es gibt schon jetzt die Möglichkeit, früher mit Abschlägen und später mit Aufschlägen in Rente zu gehen. Was Sie wollen, gibt es eigentlich schon; die Tarifparteien müssen mitmachen.

 

Auch im Interesse der Chancengerechtigkeit zwischen den Generationen ist es angemessen, dass die gewonnenen Jahre nicht allein zur Verlängerung des Rentenbezugs, sondern auch für eine längere Erwerbsphase genutzt werden. Das gilt umso mehr, als die abnehmende Zahl der Erwerbspersonen zu einem großen Mangel an qualifizierten Fachkräften führt. An dieser Stelle ist die Verantwortung der Unternehmen gefragt. Sie müssen sich auf einen längeren Verbleib von Älteren im Erwerbsleben einstellen.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

 

Dennoch ist ein Umdenken in den Betrieben längst noch nicht verbreitet. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag beklagt: Der Arbeitskräftemangel droht zur Beschäftigungs- und Wachstumsbremse zu werden. - Im Raum München fehlen Fachkräfte für Banken und Versicherungen. Der Verband deutscher Maschinenbauer beklagt einen Mangel an Facharbeitern. Auch in den Gesundheitsberufen bleiben Stellen 42 Tage unbesetzt, weil Fachkräfte fehlen. Das sind nur einige Beispiele. Dies ist in der branchenspezifischen Fachkräftepolitik zum großen Teil nicht berücksichtigt worden. Es ist die Frühverrentung, die den Betrieben das Know-how der Älteren genommen hat.

 

Die Unternehmen sind künftig noch mehr auf qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angewiesen und müssen sich schnellstens auf eine ältere Belegschaft einstellen. Betriebliche Maßnahmen zur Förderung von lebenslanger Weiterbildung und zur Gesundheitsförderung müssen zum Selbstverständnis von Betrieben gehören.

 

Die demografischen Veränderungen sind kein rein deutsches Phänomen. Darum nehmen am Wettbewerb um die klügsten Köpfe auch andere Länder teil. Es wäre zu kurz gedacht, in erster Linie nach jungen Fachkräften aus dem Ausland zu rufen. Da unterstütze ich insbesondere das, was Minister Müntefering vorhin gesagt hat. Aber wir brauchen beides: Wir brauchen Zuwanderung und wir brauchen Strategien der Betriebe zur längeren Beschäftigung von Älteren.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

 

Die grüne Fraktion hat sich intensiv mit der Frage auseinander gesetzt, ob es nicht sinnvoll ist, zunächst für die bessere Integration von Älteren ins Erwerbsleben zu sorgen und erst danach ein höheres Rentenalter zu beschließen. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es für alle Beteiligten besser ist, wenn die schrittweise Anhebung der Rentenaltersgrenze planbar wird.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Die Unternehmen wissen: Sie müssen mehr für die Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit ihrer Beschäftigten tun, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen. Ältere Beschäftigte profitieren davon, wenn ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden. Auch sie müssen sich darauf einstellen, ihre individuelle Arbeitsfähigkeit länger zu erhalten - so weit, so gut.

 

Und was tut die Bundesregierung? Sie verhält sich wie so oft widersprüchlich. Einerseits ist sie bereit, eine unpopuläre Entscheidung zu treffen; andererseits setzt sie noch immer auf die falschen Signale. Ich nenne nur die Verlängerung der 58er-Regelung,

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Peter Rauen [CDU/CSU])

 

die Möglichkeit, dass 15 000 Beamte aus den ehemaligen Postnachfolgeunternehmen mit 55 Jahren in Rente gehen können,

 

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

 

oder eine Stichtagsregelung für Altersteilzeitverträge, damit diese Personen nicht von der Anhebung der Altersgrenze betroffen sind. Gerade diese offene Flanke löste in den letzten Tagen in vielen Großunternehmen Hektik in Richtung Altersteilzeit nach dem Blockmodell aus. So wurden viele ältere Beschäftigte in den letzten Wochen dazu aufgefordert, kurzfristig einen Vertrag zur Altersteilzeit zu unterschreiben, um frühzeitig in Rente zu gehen. Und dieses "Dezemberfieber" haben Sie, lieber Herr Minister Müntefering, zu verantworten.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Sie sind nicht glaubwürdig, wenn Sie auf der einen Seite den Anstieg des Rentenalters vorschlagen, aber gleichzeitig auf der anderen Seite die Türen für eine Fortsetzung der Frühverrentungspraxis weit öffnen. Akzeptanz erfordert auch Konsequenz, Herr Minister. Eine konsequente Abkehr von der Frühverrentungspraxis ist das beste Mittel, das Rentendurchschnittsalter ansteigen zu lassen. Schon jetzt hat sich durch den erschwerten Zugang zur Frühverrentung der Anteil von Männern, die mit 60 Jahren in Rente gehen, halbiert. Auch das tatsächliche Renteneintrittsalter für Altersrenten ist auf 63,2 Jahre angestiegen. Und das sollten Sie nicht aufs Spiel setzen.

 

Ein späterer Renteneintritt senkt den Druck auf die Beitragssätze und entlastet die nachkommende jüngere Generation, die mit weniger Personen mehr Renten finanzieren muss.

 

Die Linksfraktion ignoriert das Problem der gestiegenen Rentenlaufzeiten und gibt deshalb auch keine Antwort auf die Frage, wie die Belastung zwischen Jungen und Alten gerechter gelöst werden kann.

 

(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Indem alle Einkommen herangezogen werden!)

 

DGB, FDP und Linke verschließen die Augen vor der Zukunft. Meine Fraktion wird sich dieser Verantwortung stellen - und das auch in der Opposition.

 

Vielen Dank.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)

 

 



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