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Rentenwerte

6. April 2006

 

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

 

Das Wort hat nun die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.

 

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

 

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ernst, ich beneide Sie: Es ist schön, wenn man ein so einfaches Weltbild hat, wie Sie es haben. Da kann man sich zufrieden zurücklehnen.

 

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

 

Wir diskutieren heute über eine Reihe rentenpolitischer Vorhaben. Ich beginne mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte. Ziel dieses Gesetzentwurfes war es, mögliche Rentenkürzungen aufgrund niedriger Lohnsteigerungen zu vermeiden. Dieses Ziel hat meine Fraktion voll und ganz unterstützt. Da das Ministerium selbst jetzt aber bestätigt, dass es aufgrund der Lohnentwicklung nicht zu einer Rentenkürzung kommen wird, ist dieser Gesetzentwurf absolut überflüssig.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Man kann es auch anders ausdrücken: Stell dir vor, die Regierung macht ein Gesetz und keiner braucht es.

 

Herr Minister Müntefering, man sollte die Sauerländer nicht unterschätzen: Sie sind ein Fuchs. Sie haben vor den Landtagswahlen den Robin Hood der Rentner und Rentnerinnen gespielt und ihnen gesagt, dass Sie Rentenkürzungen per Gesetz ausschließen. Die Menschen sind froh und akzeptieren scheinbar dankbar eine neue Nullrunde. Doch nun, da Sie wissen, dass die Renten nicht gekürzt werden müssen, fordere ich Sie auf: Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück!

 

(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

 

Machen Sie keine Symbolpolitik mit einem Gesetz, das niemals zur Anwendung kommen wird!

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

 

Ich komme zum nächsten Punkt, zu den Rentenversicherungsberichten 2004 und 2005. Was die Menschen bei der sozialen Sicherung und gerade bei der Rente dringend brauchen, sind Vertrauen und Verlässlichkeit. Ich glaube, dass Ihre Annahmen bezüglich der Lohnentwicklung und des Wirtschaftswachstums viel zu optimistisch sind. Ich erinnere an die Fehlprognosen von 1995. - Herr Kollege Brauksiepe, 1995 gab es leider noch keine rot-grüne Bundesregierung.

 

(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da waren die Zahlen auch noch gut!)

 

Natürlich wünsche auch ich mir, dass die Gewerkschaften endlich wieder bessere Tarifabschlüsse durchsetzen können; denn das ist gut für die Beschäftigten, die Binnennachfrage und letztendlich auch für die Renten. Aber ein Rentenversicherungsbericht ist nun einmal kein Wunschkatalog. Wir brauchen eine realistische Vorschau auf die nächsten 15 Jahre.

 

Die gesetzliche Rente hat in den letzten Jahren durchaus schmerzhafte Reformen durchlebt. Niveausenkungen und der Nachhaltigkeitsfaktor sind in diesem Zusammenhang nur zwei Stichworte. Aber dadurch ist sie zukunftsfähig geworden. Durch sie werden die meisten Menschen vor Armut geschützt. Sie wird aber nicht ausreichen, um den Lebensstandard im Alter zu sichern. Private und betriebliche Vorsorge tut zusätzlich Not.

 

Der ehemalige Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Franz Ruland, der "Rentenpapst", hat am 3. April dieses Jahres in einem Interview mit der "FAZ" die Einschätzung vertreten:

 

Was im Rentensystem kürzbar war, ist gekürzt worden.

 

Ich schließe mich dieser Einschätzung explizit an und erweitere sie um die Bemerkung: Innerhalb des bisherigen Umlagesystems der gesetzlichen Rentenversicherung sind alle Reformen durchgeführt worden, die vertretbar sind. Die schrittweise Heraufsetzung des Renteneintrittsalters, die noch zu verabschieden ist, schließe ich in diese Bemerkung ausdrücklich ein. Herr Minister, wir unterstützen Sie bei der Heraufsetzung des Renteneintrittsalters; denn das ist eine logische Konsequenz des längeren Lebens. Heute beziehen die Menschen 17 Jahre lang Rente, 1960 waren es zehn Jahre weniger. Ich fordere Sie aber auf, bei der Umsetzung nicht zu stümpern.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters und die Beschäftigung Älterer in den Unternehmen sind wie ein Gespann. Beides muss parallel und im gleichen Tempo laufen; ansonsten geht es schief. Hier ist die Wirtschaft in der Verantwortung. Ohne Arbeitsplätze für Ältere ist die Rente mit 67 eine Rentenkürzung und das lehnen wir ab.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Es wird gern verschwiegen, aber wir haben ein strukturelles Problem bei den Einnahmen der Rentenversicherung. Diese Schwierigkeit ist nicht kurzfristiger Natur. Sie wird in den nächsten Jahren andauern, wenn wir nicht an den Ursachen ansetzen. An dieser Stelle ist die große Koalition blind; denn sie ignoriert die Analyse namhafter Experten. Bereits im Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2004 hat der Sozialbeirat auf die Probleme bei der Entwicklung der Beitragseinnahmen aufmerksam gemacht. Er hat die Diskrepanz zwischen dem gestiegenen Bruttoinlandsprodukt und sinkenden Einnahmen der Rentenversicherung benannt. Die Ursachen liegen auf der Hand: gedämpfte Lohnentwicklung, weniger sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige, weniger Pflichtversicherte, mehr Selbstständige, mehr geringfügig Beschäftigte und mehr Arbeitslose mit einem niedrigeren Beitrag. Doch obwohl CDU/CSU und SPD das Gutachten bekannt war, haben sie keine adäquaten Konsequenzen daraus gezogen, sondern die Schlussfolgerung im Koalitionsvertrag ins Gegenteil verkehrt. Im Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2005 bewertet der Sozialbeirat die Annahmen zur kurz- und mittelfristigen Beschäftigungs- und Entgeltentwicklung an mehreren Stellen als ambitioniert. Offensichtlich wollte sich der Sozialbeirat diplomatisch ausdrücken und die positiven Konjunkturerwartungen nicht dämpfen.

 

Schauen Sie aber in die neueste Studie "Prognos Deutschland Report 2030". Darin steht, dass in den nächsten 25 Jahren mit einem massiven Rückgang von Arbeitsplätzen im traditionellen Industriebereich zu rechnen ist. Daneben wird von einer starken Zunahme der Zahl der Selbstständigen gerechnet. Aufgrund der letzten Jahre wissen wir, dass Selbstständigkeit in vielen Fällen eine selbst gewählte Notlösung ist, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Sorge bereiten uns vor allem jene Selbstständige, die nicht in der Lage sind, sich ausreichend sozial abzusichern.

 

Herr Minister Müntefering, in der Haushaltsdebatte der letzten Woche haben wir Ihnen vorgeworfen, dass Sie den Bundeshaushalt zulasten der Versicherten sanieren, zum Beispiel durch die Erhöhung der Sozialabgaben für Minijobs. Ihr Sozialbeirat wird da sehr viel deutlicher - ich zitiere -: "Die Erhöhung von Sozialbeiträgen mit dem ausdrücklichen Ziel, den Bundeshaushalt zu entlasten, ist verfassungsrechtlich problematisch."

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Als Beispiel für diesen verfassungsrechtlich bedenklichen Eingriff in die Finanzierungsgrundlagen der Rentenversicherung wird im Gutachten die Halbierung des Mindestbeitrags von 78 auf 40 Euro für Langzeitarbeitslose kritisiert. Während jede Existenzgründerin und jeder freiwillig Versicherte den Mindestbeitrag von 78 Euro entrichten muss, macht der Bund in seinem eigenen Gestaltungsbereich selbstherrlich Ausnahmen. Ich empfinde das als Politik nach Gutsherrenart.

 

Ich komme zu den Betriebsrenten. Wer ein Gesamt-rentenniveau erreichen will, das den Lebensstandard sichert, muss rechtzeitig auch privat und betrieblich vorsorgen. Gerade durch die Entgeltumwandlung hat sich die Betriebsrente enorm etabliert. Wir begrüßen daher den Entwurf der europäischen Richtlinie zur Portabilität von Zusatzrentenansprüchen.

 

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das hat aber mit Entgeltumwandlung nichts zu tun!)

 

- Ich komme gleich darauf, Herr Kollege. - Moderne Arbeitsmärkte fordern auch mobile Beschäftigte. Deshalb muss die betriebliche Altersvorsorge flexibler werden. Sie darf nicht als Finanzierungsmasse der Arbeitgeber verwendet werden und muss stärker vor Insolvenz geschützt werden.

 

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

 

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?

 

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

 

Herr Kollege Weiß, es ist mir eine Freude.

 

Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):

 

Frau Kollegin Schewe-Gerigk, es ist mir eine Freude, dass ich Ihnen heute Morgen eine Freude machen kann.

 

(Heiterkeit)

 

Sie haben soeben ausgeführt, dass die Grünen die Betriebsrenten in Deutschland stärken und weiter ausbauen wollen - was, wie ich glaube, die Zustimmung des ganzen Hauses findet - und dass die Entgeltumwandlung eine sehr gute Grundlage bildet. Das ist vollkommen richtig. Dann haben Sie aber einen Schlenker zu der europäischen Richtlinie zur Portabilität von Zusatzrentenansprüchen gemacht. Ich weiß nicht, wie das zusammenpassen soll, Frau Kollegin Schewe-Gerigk. Alle Experten des Betriebsrentensystems in Deutschland sagen uns: Wenn wir diese EU-Richtlinie, so wie sie ist, akzeptieren würden, würde dadurch das System der Betriebsrenten in Deutschland keinen Aufschwung erleben, sondern zusammenbrechen. Viele Betriebe würden sich aus dem Betriebsrentensystem verabschieden. Die Zusatzversorgung für Angehörige des öffentlichen Dienstes wäre am Ende. Deswegen kann ich nicht verstehen, wie das zusammenpassen soll. Erklären Sie uns einmal, wie diese EU-Richtlinie mit ihren negativen Auswirkungen für das Betriebsrentensystem zu Ihrer Aussage passen soll, dass Sie die Betriebsrenten fördern wollen!

 

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

 

Wir haben gesagt, dass wir die Entgeltumwandlung nicht weiter sozialversicherungsmäßig und steuerlich fördern wollen. Denn in dem betreffenden Gesetz wurde eine Laufzeit bis 2008 beschlossen. Dazu kommt, dass diese Maßnahme die Sozialkassen ziemlich plündert. Sie war als Anschubfinanzierung vorgesehen und dieses Ziel hat sie erreicht.

 

Bei der EU-Richtlinie handelt es sich doch ganz eindeutig darum, dass diejenigen, die mobil sind, junge Menschen, nicht erst ab einem Alter von 30 Jahren, sondern bereits ab 21 Jahren geschützt werden sollen. Es gibt junge Leute, die ins Ausland gehen und ihre Rentenansprüche mitnehmen wollen. Sie möchten ferner, dass das nicht erst nach einer Betriebszugehörigkeit von fünf Jahren möglich sein soll, sondern bereits nach zwei Jahren. Das ist doch eine wichtige Sache. Ich finde, eine Maßnahme, die steuerlich begünstigt ist und von der die Arbeitnehmer auch etwas haben, gehört in das Eigentum der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn solche Zusagen vorliegen. Es ist absolut richtig, dass diese Ansprüche mitgenommen werden können und sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch zustehen. Aber ich werde darauf gleich in meiner Rede noch intensiver eingehen, Herr Kollege.

 

Ich habe dank Ihrer Zwischenfrage meine Redezeit noch etwas verlängern können.

 

Wir wollen aber auch, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen die betriebliche Altersvorsorge bei einem Wechsel des Arbeitgebers generell und uneingeschränkt weiterführen können. Bereits bestehende Ansprüche für ausscheidende Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen müssen dynamisiert werden, damit sie sich nicht mit der Zeit entwerten.

 

Was tut die Regierung? Jetzt komme ich auf die Stellungnahme der Bundesregierung zu dieser EU-Richtlinie zurück; wir haben es gestern im Ausschuss diskutiert. Da sagt die große Koalition: Eigentlich wollen wir uns von der EU gar nichts sagen lassen.

 

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Richtig!)

 

Ich dachte immer, wir seien ein Mitgliedsland der Europäischen Union. Aber Sie meinen: Eigentlich hat die EU in diesen Dingen nichts zu sagen. Die Stellungnahme der Bundesregierung ist sehr einseitig an den Interessen der Arbeitgeber ausgerichtet. Auch wir wollen, dass die betriebliche Altersvorsorge für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber interessant bleibt. Aber aus lauter Arbeitgeberfreundlichkeit die Flexibilisierung der betrieblichen Altersvorsorge gleich ganz abzulehnen, das wäre unseres Erachtens ein kapitaler Fehler. Damit schaden Sie der betrieblichen Altersvorsorge.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Es ist gerade umgekehrt!)

 

Ich komme zum Schluss. Betrachte ich die Rentenpolitik der großen Koalition - wir haben darüber ja in den letzten Wochen und Monaten viel gehört und hier diskutiert -, dann kann ich nur sagen: Der Zickzackkurs geht weiter. Sie machen jeden Tag neue Vorschläge, die Sie dann wieder zurücknehmen; ich nenne nur: die Erhöhung des Bundeszuschusses im nächsten Jahr mit 600 Millionen Euro, die Reduzierung der Rentenbeiträge ab dem Jahre 2014 - wo Sie genau wissen, dass da gerade die Babyboomer in Rente gehen - und viele andere Dinge, etwa die Ausnahmeregelung bei der abschlagfreien Rente, bei der Sie sagen: Die Dachdecker müssen eigentlich schon früher in Rente. Im Rentenversicherungsbericht findet man davon überhaupt nichts wieder. Dann wenden Sie sich den Betriebsrenten zu und sagen: Hier wollen wir Einschnitte vornehmen. - Am nächsten Tag ist das alles wieder nicht richtig. Es ist ein Hin und Her und da fällt auf: Von der Kanzlerin ist in diesem Zusammenhang überhaupt nichts zu hören. Haben Sie von der Kanzlerin mal etwas zur Rentenpolitik gehört, zu dem wichtigsten Thema, das wir derzeit diskutieren?

 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! - Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jede Menge!)

 

Herr Müntefering, manchmal tun Sie mir ja auch etwas Leid; denn Ihre Fraktion hat sich in dieser Frage vollkommen weggeduckt. Ich finde, das ist keine verantwortliche Politik. Hier müssen Sie endlich den Menschen verlässliche Konzepte vorlegen, damit sie sich darauf einstellen können. Denn gerade diejenigen, die kurz vor der Rente stehen oder die schon im Rentenbezug sind, können doch in ihrem Leben nichts mehr verändern; sie sind auf Verlässlichkeit angewiesen. Sie wollen im Alter eine auskömmliche Rente und ein Leben in Würde haben.

 

Vielen Dank.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



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