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Rentenalter

Irmingard Schewe-Gerigk, Rentenalter

9. Februar 2006

 

Vizepräsident Wolfgang Thierse:

 

Das Wort hat nun Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

 

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Müntefering, Gratulation, anders als Ihr Exkollege Lafontaine sind Sie in der Realität angekommen. Noch vor drei Jahren haben Sie behauptet, in der Rente bedürfe es keiner weiteren Reform. Auf Druck der Grünen wurde dann die Rürup-Kommission eingesetzt. Sie hat vorgerechnet, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit um zwei Jahre bis zum Jahre 2035 unabdingbar ist. Die Rentner protestierten, obwohl nicht sie betroffen waren, sondern die heute 40-Jährigen, die sich aber noch ganz schön still verhalten. Sie erwarten nicht mehr viel.

 

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist eine Reaktion darauf, dass die Menschen inzwischen erfreulicherweise älter werden und durchschnittlich 16 Jahre lang Rente beziehen. Früher waren es nur sechs Jahre.

 

Heute kommen zwei Erwerbstätige für einen Rentner auf. Würden wir keine Veränderungen durchführen, Herr Kollege Lafontaine, wären wir im Jahr 2050 bei einem Erwerbstätigen pro Rentner. Damit würde das System zusammenbrechen.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

 

Insofern unterstützen wir ausdrücklich das Vorhaben des Ministers. Allerdings enden damit unsere Gemeinsamkeiten. In den vergangenen Tagen hat sich in der SPD und der großen Koalition das blanke Chaos abgespielt.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Widerspruch bei der SPD)

 

Alles gackert durcheinander. Ein Hühnerhof ist dagegen ein Ort der Stille.

 

Erst verzögern Sie den Rentenversicherungsbericht. Dann treffen Sie im Koalitionsvertrag Vereinbarungen, die der Quadratur des Kreises entsprechen: Sie wollen die Rente nicht kürzen, den Beitragssatz stabil halten, aber den Bundeszuschuss einfrieren. Die versammelte Wissenschaft hat Ihnen bescheinigt, dass das alles nicht zusammenpasst.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Wenn Sie den Bundeszuschuss einfrieren und die Rente nicht kürzen, werden die Beiträge schon bald über 20 Prozent steigen. Das wissen Sie genau. Darum gibt es nämlich bei Ihnen auch schon erste Absetzbewegungen vom Koalitionsvertrag.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Das Absurdeste allerdings ist, dass Sie den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Wer bis 67 arbeiten soll, braucht auch einen Arbeitsplatz. Den haben aber heute nur 40 Prozent der über 55-Jährigen. Wir haben uns im Lissabonprozess darauf verständigt, dass es bis 2020 50 Prozent sein sollen. Haben Sie, Herr Minister, sich denn klar gemacht, welches Signal Sie aussenden, wenn Sie den Menschen sagen, sie sollen künftig länger arbeiten, während Sie gleichzeitig die 58-Jährigen mit dem Arbeitslosengeld I dazu bringen, dem Arbeitsmarkt endgültig Ade zu sagen, damit sie aus der Statistik herausfallen? Haben Sie die Auswirkungen berücksichtigt, wenn Sie die Weiterbildung für Ältere bei der Agentur für Arbeit zum Jahresende auslaufen lassen? Wie wollen Sie damit bei den Menschen Vertrauen schaffen?

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Ich wundere mich nicht, dass bei einer solchen Politik über drei Viertel der Menschen gegen die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sind. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit setzt die Integration Älterer auf dem Arbeitsmarkt voraus. Anderenfalls entspräche sie einer gigantischen Rentenkürzung.

 

Wer wie Sie den zweiten Schritt vor dem ersten macht, kann dabei ganz schön ins Stolpern kommen; denn die Rentenfrage gehört zu den wichtigsten Zukunftsfragen. Eine Fortsetzung des bisherigen Hin und Her

 

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Meinen Sie jetzt das aus der Zeit der rot-grünen Koalition?)

 

trägt zur Verunsicherung bei und führt zu einer sinkenden Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung. Wer will es den Jüngeren verdenken, wenn sie nach Wegen suchen, wie sie die gesetzliche Rentenversicherung umgehen können?

 

Nun komme ich zu der hilflosen Debatte über die Ausnahmeregelungen, etwa für Krankenschwestern oder Dachdecker. Das Einfallstor dafür ist die Regelung, nach 45 Beitragsjahren weiterhin die Rente ab 65 ohne Abschläge zu erhalten. Ich behaupte: All diese Ausnahmeregelungen tragen im Kern zu neuen Ungerechtigkeiten bei. Die Sonderregelung mit 45 Pflichtbeitragsjahren wird nämlich zulasten von berufstätigen Frauen - insbesondere mit Kindern - finanziert. Unter ihnen gibt es nicht viele, die so lange arbeiten.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

 

Sie haben nämlich so gut wie keine Chance, abschlagsfrei in Rente zu gehen, müssen aber ihrerseits alle Ausnahmeregelungen mitfinanzieren.

 

Nach meinem Eindruck dient die Regelung in Bezug auf 45 Pflichtbeitragsjahre eher zur Beruhigung des schlechten Gewissens. Denn diejenigen, die diese Politik vertreten, wissen genau, wie wenig glaubwürdig die Erhöhung des Renteneintrittsalters ohne flankierende Maßnahmen in anderen Politikfeldern ist.

 

Ausnahmeregelungen für verschiedene Berufe, wie sie der Wahlkämpfer Kurt Beck derzeit verlangt, sind nicht geeignet, Benachteiligungen individuell und gerecht aufzulösen.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

Stattdessen sollten wir darüber nachdenken, wie das bereits vorhandene Instrument der Erwerbsminderungsrente weiterzuentwickeln ist.

 

Ich kann mir vorstellen, dass Menschen nach 45 Versicherungsjahren über eine Erwerbsminderungsrente mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen, wenn ihr Erwerbsleben belastend war und sie deshalb unter gesundheitlichen Einschränkungen leiden. Das wäre ein anderer Weg. Dringend notwendig ist allerdings eine fundierte Debatte auf der Grundlage des Rentenversicherungsberichts.

 

Im Interesse der Menschen fordere ich Sie auf, das derzeitige Chaos alsbald zu beenden. Wir Grüne jedenfalls werden unseren Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten.

 

Recht herzlichen Dank.

 

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

 

 



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