Menü

Lage der älteren Generation in Deutschland (28.02.2005)

Präsident Wolfgang Thierse:

Ich erteile Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt kommt aber eine junge Alte!)

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, Herr Kollege Kauder, jetzt kommt eine junge Alte - das ist ja ein guter Start.

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Vierten Altenbericht hat die Sachverständigenkommission eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Risiken, Lebensqualität und Versorgung hochaltriger Menschen vorgelegt. Die Kommission hat deutlich gemacht, dass die Möglichkeiten, sehr alt zu werden, in den industrialisierten Ländern erst in allerjüngster Zeit Wirklichkeit geworden sind. Somit ist - ich zitiere - "die Kultur der Integration alter und sehr alter Menschen in den Diskurs der Generationen" eine noch neue Aufgabe, der wir uns künftig dauerhaft stellen müssen und - das sage ich für meine Fraktion - auch stellen wollen.

Selbstbestimmtes Leben ist für uns Grüne ein hohes Gut. Darum können wir uns mit dem Menschenbild der Kommission - nämlich der Realisierung eines selbstständigen und selbstbestimmten Lebens in Würde auch im hohen Alter - nachdrücklich identifizieren. Im Zentrum meiner Rede stehen daher folgende Fragen: Was hindert Hochbetagte daran, ihre letzten Lebensjahre autonom, selbstbestimmt und in Würde leben zu können? Sind es ausschließlich krankheitsbedingte Einschränkungen oder haben wir ähnlich wie bei den "jungen Alten" ein verzerrtes Bild von der Realität Hochbetagter? Wer weiß schon, dass 70 Prozent der über 85-Jährigen noch allein im Alltag zurechtkommen? Auch Herr Link hat das eben schon angesprochen.

Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass 20 Prozent der über 80-Jährigen an Depressionen leiden, von denen 15 Prozent an einem Suizid sterben. Dass sich Menschen im Alter so allein und verlassen fühlen, muss uns ebenfalls zu denken geben.

Aber - das bestätigt die Sachverständigenkommission eindrücklich - wir wissen zu wenig über die Gesundheit, die Ressourcen und die Lebenszusammenhänge von Menschen über 85. Darum brauchen wir Forschungsstrategien, die zu einem besseren Verständnis des so genannten normalen und auch des pathologischen Alterns führen. Erst dann können wir Strategien erfolgreicher einsetzen.

In Deutschland ist die Versorgungsforschung im Gegensatz zur Medikamentenforschung leider noch sehr stark unterbelichtet. Dabei liegt es doch in unser aller Interesse, mehr darüber zu erfahren, welche Programme für die häufigsten Alterserkrankungen am erfolgreichsten sind. In diesem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen: Welche Programme zur Frührehabilitation helfen Schlaganfallpatienten am besten dabei, wieder auf die Beine zu kommen? Welche Therapieformen helfen Menschen, die an einer Demenz erkrankt sind, am besten? Wie kann durch eine fördernde Umgebung und durch Maßnahmen, die die Angehörigen einbeziehen, die Entwicklung einer schweren Form von Demenz hinausgezögert werden? Welche Sturzprophylaxen verhindern, dass hochbetagte Menschen dauerhaft gebrechlich werden?

Obwohl die Bundesregierung in den letzten Jahren bereits einige Forschungsprojekte zur Hochaltrigkeit auf den Weg gebracht hat, sind in den nächsten Jahrzehnten weitere Forschungsressourcen auf die genannten Bereiche zu konzentrieren. Um den Einsatz der Mittel zu optimieren, ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftsdisziplinen in Netzwerken dringend geboten.

Schließlich müssen wir dafür sorgen, dass neue Erkenntnisse möglichst schnell bei den Berufsgruppen ankommen, die am häufigsten mit alten Menschen in Kontakt stehen. Sie werden es ahnen: Es geht hier um die Schlüsselrolle der Hausärzte und Hausärztinnen. Sie müssen in der Lage sein, frühe Hinweise auf eine Demenzerkrankung bei ihren alten Patienten und Patientinnen zu erkennen. Sie müssen diagnostische und therapeutische Maßnahmen in die Wege leiten und die Patienten und ihre Angehörigen beraten und begleiten. Denn wir wissen: Zwei Drittel der über 900 000 De-menzerkrankten werden zu Hause gepflegt. Nicht nur die hohen volkswirtschaftlichen Kosten, sondern auch die psychischen und die physischen Belastungen für die Familienangehörigen, die Patientinnen und Patienten sowie die Professionellen müssen uns dazu veranlassen, die Ressourcen in diesem Bereich zu bündeln. Das heißt aber auch, dass bei der anstehenden Reform der Pflegeversicherung die Situation der Demenzerkrankten, die einen hohen Betreuungs- und Beaufsichtigungsaufwand haben, sehr dringlich berücksichtigt werden muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie wissen, dass wir dafür die Zustimmung des Bundesrates brauchen. Sie sollten sich nicht länger unseren Vorschlägen zum Subventionsabbau verweigern; denn dadurch frei werdende Gelder dienen auch dazu, die Situation dieser alten Menschen endlich zu verbessern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Ich kehre nun zu meiner Ausgangsfrage zurück, welches die förderlichen Bedingungen sind, unter denen wir nicht nur älter werden, sondern die gewonnene Lebenszeit auch so selbstbestimmt und autonom wie möglich verbringen können. Aufgrund des Verhaltens der Älteren wissen wir, dass die Mehrheit ein Leben in der selbst gewählten Häuslichkeit anderen institutionellen Lösungen vorzieht. 90 Prozent aller alten Menschen möchten nicht in ein Heim, so das Ergebnis einer Befragung. Auch deshalb liegt das Durchschnittsalter beim Einzug in ein Heim bei 84 Jahren. Die in den letzten Jahren entstandene bunte Landschaft verschiedener Wohnprojekte, die sich als Alternative zum traditionellen Heim verstehen, bewerten wir als Indiz für diese erfreuliche Entwicklung.

Wir erleben vermehrt, dass sich junge Menschen und junge Alte - Herr Kauder, so haben Sie mich ja gerade genannt - ab 50 engagieren, um ihre Wohnsituation ihren Wünschen und Anforderungen an das Leben in hohem Alter anzupassen. Bei einigen Projekten spielen der gezielte Aufbau von sozialen Netzwerken und die Suche nach Wahlverwandten eine große Rolle, um Vereinsamung und Angewiesensein auf Fremdhilfe zu vermeiden. Zu der vielfältigen Landschaft neuer Wohnformen zählen Mehrgenerationenwohnen - hier leben also Jung und Alt zusammen -, Wohngemeinschaften für ältere Menschen, Haus- und Wohngemeinschaften für Demenzerkrankte - diese gibt es ansatzweise schon in Berlin - sowie Pflegewohnungen für sechs bis acht Personen in einem Stadtteil.

Bündnis 90/Die Grünen tritt entschieden für eine Verbesserung der Wahlmöglichkeiten von Älteren ein. Wir wollen, dass jeder und jede selbst entscheiden kann, ob er oder sie im Heim oder in einer anderen Wohnform leben will. Erfreulicherweise gibt es mittlerweile auch eine Reihe von Heimträgern, die sich mit der Frage befassen, wie sie diesem Trend folgen können, und die bereit sind, ihr Dienstleistungsangebot zu verändern. Experten gehen mittlerweile davon aus, dass eine Wohnumwelt, die an die Bedürfnisse älterer Menschen angepasst ist und eigenständiges Wohnen ermöglicht, das Risiko der Pflegebedürftigkeit vermindert. Wir ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass überprüft werden muss, wie der Staat diese Entwicklungen fördern kann.

Oberste Priorität hat für uns die Förderung von Hilfe zur Selbsthilfe. Darüber hinaus ist zu überlegen, welche Maßnahmen geeignet sind, um Alternativen zum Heim auch für die Bevölkerungsgruppen zu erschließen, die nicht in der Lage sind, die entsprechenden Schritte zur Projektentwicklung selbst durchzuführen. Der Koalitionsantrag zur Stärkung des genossenschaftlichen Wohnens ermöglicht die Förderung von Modellvorhaben und Pilotprojekten unter ausdrücklicher Einbeziehung älterer Menschen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Die neuen Angebotsformen des betreuten Wohnens professioneller Anbieter bedürfen flankierender Maßnahmen zur Sicherung der Qualität solcher Angebote. Die Erfahrungen mit dem Qualitätssiegel "Betreutes Wohnen für ältere Menschen" in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Bayern und beispielsweise die Aktivitäten des Vereins für Selbstbestimmtes Wohnen im Alter in Berlin sind in solche Überlegungen einzubeziehen. Ergänzend zur Förderung von selbstbestimmten Wohnformen im Alter benötigen wir aber weiterhin ein ausreichendes Angebot neuer und alter Dienstleistungen in den Bereichen Hauswirtschaft, Handwerk, ambulante Pflege, Gesundheitsförderung sowie spezielle Reiseangebote für ältere Menschen und die sie begleitenden Personen.

Angesichts der Vielfalt von Wahlmöglichkeiten für ältere Menschen haben wir in dem fraktionsübergreifenden Antrag zu diesem Thema - ich begrüße es ausdrücklich, dass wir es geschafft haben, einen solchen Antrag vorzulegen - bewusst auf integrierte Beratungsangebote gesetzt, um die Übersichtlichkeit der vorhandenen Hilfsangebote im Pflege- und Gesundheitsbereich zu erhöhen.

Aus unserer Sicht zählt zu diesen Beratungsangeboten auch der weitere Ausbau der Wohnberatung. Sie wird besonders bei Wohnungsanpassungen - die ja notwendig sind, wenn ältere Menschen in ihrer Wohnung bleiben wollen - tätig und kann nachweislich Heimeinweisungen vermeiden oder zumindest hinauszögern. Hier müssen wir tätig werden.

Angesichts der Reichweite dieses Themas begrüße ich noch einmal das Zustandekommen dieser Beschlussempfehlung. Wir haben noch viel zu tun. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken! Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU wirklich darum, ihre Blockade aufzugeben, damit wir für die alten Menschen bald etwas tun können.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

zurück

GRUENE.DE News

<![CDATA[Neues]]>