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Patientenverfügungen (10.03.2005)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Kollege Zöller, als ich hier vor zwei Stunden vom Vorsitz der Sitzung abgelöst wurde, haben Sie geredet. Jetzt komme ich wieder, und Sie reden noch immer.

(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Trotzdem habe ich meine Redezeit eingehalten!)

Das bringt meine Vorstellungen über die von den Fraktionen gewährten Redezeiten endgültig zum Einsturz.

Das Wort hat nun die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Selbstbestimmungsrecht gehört zum Kernbereich der grundgesetzlich geschützten Würde und Freiheit des Menschen. Es wird durch die Willensäußerung des entscheidungsfähigen Menschen ausgeübt. Relevante Festlegungen können auch in die Zukunft wirken. Das deutsche Recht stellt das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper höher als die Schutzpflichten anderer für sein Leben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist auch der Grund dafür, dass alle ärztlichen Eingriffe nur nach einer Einwilligung zulässig und ohne Einwilligung strafbar sind.

Wie steht es aber um die Selbstbestimmung und Menschenwürde der 70 Prozent aller Menschen, die in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen sterben? Zwei Drittel der im Krankenhaus Beschäftigten sagen dazu, dass ein würdevolles Sterben im Krankenhaus nicht möglich sei. Die meisten Mediziner sind sich einig: Der Zeitpunkt und die Art des Sterbens werden zunehmend von medizinischen Entscheidungen bestimmt. So sind heute, wie es der Berliner Palliativmediziner Professor Christof Müller-Busch sagt, Sterben und Tod zu einer medizinischen Aufgabe geworden, da es immer weniger von den Krankheiten selbst abhängt, wann der Tod eintritt, sondern von medizinisch-ärztlichen Maßnahmen. Er führt weiter aus, dass Sterben innerhalb medizinischer Institutionen letztlich immer nur dann ermöglicht wird, wenn auf Maßnahmen verzichtet wird, die zu einer, wenn auch begrenzten, Lebensverlängerung beitragen könnten.

Aber gerade mit dieser Verzichtsentscheidung entstehen viele ethische Probleme und sie stellt in der Tat hohe Anforderungen an alle Beteiligten. Da ist es gut, zu wissen, wie die Person selbst entschieden hätte. In solchen Situationen sind Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten, wie sie 20 Prozent aller im Hospiz Behandelten haben, wichtige Hilfen, um Entscheidungen zu treffen, die dem Willen der Patientin und des Patienten entsprechen. Hier stellt sich die zentrale Frage: Muss der in einer Verfügung festgelegte Wille unabhängig vom Krankheitsstadium befolgt werden - zumal wenn er genau die Situation beschreibt - oder darf man den Willen missachten, weil der Patient ihn nicht mehr bestätigen kann und ein Dritter für ihn bzw. gegen ihn entscheidet? Ich sage dazu: Nein. Ich finde, das wäre eine falsch verstandene Fürsorge.

Nach einer Umfrage glauben 50 Prozent der befragten Ärzte, es sei aktive Sterbehilfe, wenn sie aufgrund des geäußerten Willens des Patienten die Atemgeräte abstellen. Das macht nicht nur fehlendes juristisches Wissen deutlich, sondern das ist auch ein Indiz dafür, dass es zur Nichtverwirklichung der Patientenautonomie kommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Durch das BGH-Urteil vom 17. März 2003 wurde zwar die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung bestätigt, trotzdem herrscht in der Bevölkerung auch aufgrund der unterschiedlichen Rechtsprechung eine große Unsicherheit. Darum unterstütze ich das Bestreben der Bundesjustizministerin, das Selbstbestimmungsrecht durch gesetzliche Regelungen auch am Lebensende zu stärken und damit Rechtssicherheit zu schaffen. Das bedeutet nicht den Einstieg in die aktive Sterbehilfe, wie das in der Vergangenheit vielfach behauptet wurde.

(Beifall im ganzen Hause)

Nur durch vier Voraussetzungen ist eine Patientenverfügung überhaupt wirksam:

Erstens. Die in der Verfügung beschriebene Situation stimmt mit der konkreten Situation überein.

Zweitens. Der Wille ist noch aktuell; es gibt keine Anzeichen einer Willensänderung.

Drittens. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Verfügung durch äußeren Druck entstanden ist.

Viertens. Es wird keine aktive Sterbehilfe verlangt.

Ich habe den Eindruck, insoweit sind wir uns in diesem Hause einig. Die in den letzten Monaten mit großer Heftigkeit geführte Auseinandersetzung drehte sich aber darum, ob eine solche Patientenverfügung nur für den Fall Gültigkeit haben darf, dass das Leiden einen irreversiblen tödlichen Verlauf haben wird.

Ich sage dazu: Nein. Wenn ein aktuell einwilligungsfähiger Mensch lebensverlängernde Maßnahmen ablehnen kann, muss dieser Wille auch geachtet werden, wenn er im Voraus für eine bestimmte Situation geäußert wurde, in der keine Äußerungsfähigkeit mehr gegeben ist. Achtet man den Willen nämlich nur im Falle eines tödlichen Verlaufs des Leidens, dann bedeutet das im Umkehrschluss eine Zwangsbehandlung, die nicht erlaubt ist. Wir alle kennen doch die Situation, in der der Einsatz in der Intensivmedizin dazu führt, dass Menschen jahrelang am Sterben gehindert werden.

Ich bin aber auch der Meinung, dass in den nicht sterbenahen Situationen besondere Anforderungen an die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu stellen sind, durch die einerseits das Recht auf Selbstbestimmung geschützt und andererseits der Schutz schwerstbehinderter Menschen ermöglicht und Missbrauch vermieden wird. Darüber sollten wir in den nächsten Monaten in aller Ruhe diskutieren.

Ich muss aber sagen: Es kann nicht Aufgabe des Gesetzgebers sein, nur einem Teil der 180 verschiedenen Verfügungsmuster Respekt und Anerkennung zu zollen und das Selbstbestimmungsrecht, das in anderen Verfügungen zum Ausdruck kommt, zu missachten. Wenn es hierüber in diesem Hause keine Verständigung geben sollte, dann sollten wir überhaupt keine gesetzliche Regelung treffen, sondern alles so lassen, wie es ist.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

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