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Weniger Bürokratieabbau in Heimen (18.03.2005)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern wurde von der Europäischen Kommission eine Debatte über die Folgen der Alterung angestoßen. Der zuständige EU-Kommissar Vladimir Spidla sagte: Europa hat ein Problem. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen und von der SPD finden nicht, dass es zielführend ist, den unumkehrbaren Alterungsprozess nur als Problem zu betrachten. Natürlich müssen wir alles tun, um das abzuschwächen, aber wir müssen auch endlich beginnen, den demographischen Wandel zu gestalten, die Chancen zu erkennen und die Herausforderungen anzunehmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eine dieser Herausforderungen ist sicherlich die steigende Zahl der pflegebedürftigen Menschen in unserer Gesellschaft. Die Situation in den Heimen verändert sich. Die Menschen gehen heute sehr viel später ins Heim als noch vor Jahren, meist erst dann, wenn es aufgrund hoher Pflegebedürftigkeit keine Alternativen mehr gibt. Das durchschnittliche Alter beim Einzug ins Heim liegt - das wurde hier schon gesagt - bei 84 Jahren. Das heißt für die Pflegekräfte, dass an sie besonders hohe Anforderungen gestellt werden.

Meiner Meinung nach liegen in dem Bereich die qualifizierten Arbeitsplätze der Zukunft. Wir sollten diese Chance nicht verpassen, indem wir hier einen Niedriglohnsektor errichten. Auch darum ist es wichtig, dass das Heimgesetz in der Bundeskompetenz bleibt.

Ich will nur zwei Beispiele bringen. Baden-Württemberg hatte unter dem Stichwort Entbürokratisierung einen Antrag in den Bundesrat eingebracht, der zum Ziel hat, die Fachkraftquote auf 30 Prozent zu reduzieren.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Zurückgezogen!)

Was ist daran Entbürokratisierung?

Bayern hat einen Antrag gestellt, der zum Ziel hat, dass Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen nur noch in Zweibettzimmern untergebracht werden sollen. Das finde ich wirklich menschenverachtend. Das Heimgesetz muss in der Bundeskompetenz bleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Ihrem Antrag kann ich in vielen Punkten zustimmen. Auch an mich wurde herangetragen, dass der Verwaltungs- und Bürokratieaufwand durch das Heim- und das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz für die Heime eine große Zusatzbelastung bedeutet. Es wurde davon gesprochen, dass mehr als 40 Prozent der Bruttoarbeitszeit für verwaltende Tätigkeiten aufgewendet werden müssen. Aber nach Prüfung stellen wir fest, dass das nicht durch das Heimgesetz verursacht wird. Studien weisen darauf hin, dass viel von der Bürokratie bei der Dokumentation hausgemacht ist. Eine Untersuchung von Wingenfeld/Schnabel aus dem Jahr 2002 besagt, dass für die Pflegedokumentation sieben Minuten pro Tag je Bewohner bzw. Bewohnerin angenommen werden.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die Wahrnehmung in den Pflegeheimen ist eine andere!)

Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse des runden Tisches, der uns auch Vorschläge zur Entbürokratisierung vorlegen soll. Eine Standardisierung der Dokumentation könnte hier sicherlich ein wichtiger Lösungsansatz sein.

Die angesprochenen Widersprüche zwischen Heimgesetz und Pflege-Versicherungsgesetz sind ärgerlich.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Richtig!)

Vor allem die Regelung, dass das Vertragsverhältnis zwischen Heim und Bewohner oder Bewohnerin mit dem Tod endet, widerspricht nicht nur dem Heimgesetz, sondern hier fehlt es auch an Sensibilität. Was ist das für eine Zumutung für die Verwandten eines Verstorbenen, wenn sie am Tage nach dem Tod das Zimmer unverzüglich leer zu räumen haben, weil es direkt neu vermietet werden muss? Hier brauchen wir eine gesetzliche Klarstellung zugunsten der Regelung des Heimgesetzes, die eine zweiwöchige Fortsetzung des Vertrages zulässt.

Ich freue mich aber auch über den Konsens zwischen den Fraktionen, der eine der meiner Meinung nach notwendigsten Innovationen - hier geht es nicht um Bürokratieabbau, sondern um Innovationen - der Altenhilfe betrifft, nämlich die Notwendigkeit, das Heimgesetz an alternative Wohn- undBetreuungsformen anzupassen. Zu diesem Thema hat die grüne Fraktion vor drei Wochen eine Veranstaltung durchgeführt. Der Reichstag platzte aus allen Nähten. Das macht deutlich, welcher Handlungsbedarf bezüglich neuer Wohnformen im Alter besteht. Das bestätigt auch eine im Mai 2004 durchgeführte Umfrage des Emnid-Instituts, wonach fast die Hälfte der 40- bis 49-Jährigen im Alter in einer Seniorenwohngruppe wohnen und leben möchte. Das, was bei den 68ern noch als revolutionärer Lebensstil galt, scheint also für die Älteren eine bevorzugte Wohnform zu werden.

Im Übrigen gehen Experten auch von einer geringeren Pflegebedürftigkeit aus, wenn durch ein entsprechendes Wohnumfeld die Selbstständigkeit der Menschen gestärkt wird. Neue Wohnformen erfüllen also nicht nur die Bedürfnisse der älteren Menschen, sondern sie helfen auch Kosten sparen, und zwar sowohl für die Betroffenen als auch für die Pflegekassen. Wenn weit über 90 Prozent der älteren Menschen sagen, dass sie ihren Lebensabend nicht in einem Heim verbringen möchten, sind wir gefordert, hier etwas zu tun.

Wir müssen aber auch handeln, indem wir bürokratische Hürden für solche Wohnformen, zum Beispiel in Gestalt der Heimmindestbauverordnung, abschaffen.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr gut!)

Es kann nicht sein, dass für Wohnprojekte die gleichen Vorschriften bezüglich Sanitätsausstattung, Zimmergrößen, Feuerschutzeinrichtungen wie für Heime gelten. Es ist notwendig, diese Vorschriften zu ändern. Ich glaube, wir brauchen für solche selbst gewählten Wohnformen auch andere Anforderungen bezüglich der Höhe der Fachkraftquoten. Es geht darum, dass die Menschen in einer solchen Wohngemeinschaft so eigenständig wie möglich leben möchten.

Selten habe ich so viel Übereinstimmung mit einem Antrag der CDU/CSU festgestellt. Auch scheint es mir eine große Übereinstimmung zwischen den Vorschlägen des runden Tisches "Pflege" und dem, was Sie beantragt haben, zu geben. Ich schlage vor, dass wir zu diesem Thema eine ausführliche Diskussion führen.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Entscheidung!)

Wenn der Bericht vorliegt, können wir schauen, ob alle Forderungen von der Politik übernommen werden oder ob man bestimmte Dinge anders macht. Ich glaube, die Politik ist gut beraten, die Empfehlungen der Wissenschaft und der Praxis aufzunehmen, aber dann auch selbst Entscheidungen zu treffen. Deshalb bitte ich die CDU/CSU, ihren Antrag noch so lange zurückzuhalten. Das wäre auch ein guter Ansatz zum Thema Bürokratieabbau, damit wir nicht doppelt arbeiten müssen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

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