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Hungern in der Überflussgesellschaft – Maßnahmen gegen die Magersucht ergreifen

Drucksache 16/7458
11. 12. 2007 

Hungern in der Überflussgesellschaft – Maßnahmen gegen die Magersucht ergreifen


Der Bundestag wolle beschließen:


I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts herrscht in den westlichen Industrieländern ein durch Schlankheit geprägtes Schönheitsideal vor. Modeindustrie, Medien und Werbung produzieren ununterbrochen Bilder von extrem dünnen Models und makellosen, schlanken Schauspielerinnen – Bilder, deren Echtheit im Zeitalter von Bildbearbeitungsprogrammen zwar höchst zweifelhaft ist, deren Perfektio- nismus sich unsere Gesellschaft jedoch kaum entziehen kann.
Vor allem bei jungen Frauen bleibt dieses Schönheitsideal nicht ohne Folgen. In einer Umfrage der Max-Planck-Gesellschaft bei 9- bis 13-Jährigen bejahten 49 Prozent der Mädchen und 36 Prozent der Jungen die Frage „Wolltest du jemals dünner sein?“. 34 Prozent der Mädchen gaben an, dass sie auch bereits versucht hatten, abzunehmen.
Schlankheits-Diäten sind laut dem Bundesfachverband Essstörungen BFE e. V. häufig eine „Einstiegsdroge“ für Essstörungen. Magersucht (Anorexia nervosa), Ess-Brechsucht (Bulimia nervosa) oder Ess-Sucht (Binge-Eating Disorder) wer- den heute als psychische Krankheiten eingestuft. Gemeinsam ist ihnen die krankhafte Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Körpergewicht und Figur. Immerhin 22 Prozent der 11- bis 17-Jährigen weisen nach einer Studie des Robert Koch-Instituts Symptome einer Essstörung auf.
Körperliche Attraktivität ist für Frauen ein wesentliches Attribut. Vor allem Ma- gersucht kommt ganz überwiegend bei Mädchen und jungen Frauen, nur selten bei Männern vor: 15 Frauen, die von dieser Krankheit betroffen sind, steht im Durchschnitt ein Mann gegenüber. Leider handelt es sich dabei nicht um eine vorübergehende pubertäre Phase. Die Auswirkungen einer Magersucht sind ein Leben lang zu spüren: Jede Dritte erkrankt daran chronisch. Magersucht ist unter jungen Frauen auch die psychische Erkrankung mit der allerhöchsten Sterblich- keit: 10 bis 15 Prozent überleben die Auswirkungen der Krankheit nicht.
Das gesellschaftliche Schönheitsideal ist nie alleiniger Auslöser einer Ess- störung. Hier spielen komplexe Wechselwirkungen aus biologischen, psycho- sozialen und soziokulturellen Faktoren, wie die familiäre Situation, Leistungs- druck, geringes Selbstwertgefühl oder sexueller Missbrauch eine Rolle. Den- noch: Die dünnen Vorbilder aus Mode und Werbung werden von der Forschung,
Drucksache 16/7458 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
unter anderem von der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen (DGESS), durchaus als mitverursachend eingeschätzt.
Wohl kaum irgendwo hat das „Dünnsein“ einen so großen Stellenwert wie in der Modeindustrie, hinter den Kulissen der großen Modeschauen. Was von vielen Mädchen als glamouröser Traumjob wahrgenommen wird – seit einiger Zeit befeuert durch diverse Model-Casting-Shows – ist in Wirklichkeit das Ergebnis eines harten Wettkampfs, in dem Untergewicht beinahe Voraussetzung ist, um für eine Schau gebucht zu werden. Seit in diesem und im vergangenen Jahr Todesfälle von Models aufgrund von Mangelernährung bekannt geworden sind, hat die Politik in mehreren europäischen Ländern reagiert. So wurden bei den Modewochen in Madrid Gewichtskontrollen durchgeführt und „Laufsteg- verbote“ wegen Untergewichts ausgesprochen. In London wurden Models unter 16 Jahren vom Laufsteg ausgeschlossen. Außerdem sollen Modelagenturen jährlich Gesundheitstests bei ihren Models durchführen und geschult werden, Mädchen mit Essstörungen zu erkennen. Die spanischen Behörden gingen sogar noch einen Schritt weiter: Eine Vereinbarung mit den größten Konfektionsmar- ken des Landes schreibt einheitliche Größen vor, verbietet zu dünne Schaufens- terpuppen und schafft die Spezialabteilungen „große Größen“ in den Kaufhäu- sern ab. Geplant sind weiterhin ein „Sozialpakt gegen Anorexie und Bulimie“ und das Verbot von so genannten Wunderpräparaten zum Abnehmen. In Italien beschlossen Politik und Modeverbände einen „Anti-Magersucht-Kodex“, der die Gesundheit der Models schützen und eine „gesunde Mode“ fördern soll. Die Academy for Eating Disorders hat in den USA 2006 anlässlich des Todes eines magersüchtigen Models Richtlinien für Modelagenturen und die Modeindustrie erarbeitet, wie mit Essstörungen, Körperidealen und Körpergewicht umgegan- gen werden kann.
Auch in Deutschland kann und muss die Politik Maßnahmen ergreifen. Zum einen müssen die Models selber geschützt werden. Zum anderen sind auch ge- samtgesellschaftliche Maßnahmen nötig. Wichtige Ansprechpartner und -part- nerinnen sind Modeindustrie, Medien und Werbung. Durch sie werden Bilder geprägt, an denen sich Jugendliche orientieren. Häufig Bilder, die eine künst- liche Makellosigkeit für „echt“ verkaufen und eine Optik der Unterernährung zum Schönheitsideal stilisieren. Die Politik darf nicht länger tatenlos dabei zu- zusehen, wie Mädchen und Frauen – und vereinzelt auch Männer – unter dem Druck eines maßlos übertriebenen Schlankheitsideals leiden, manche dafür so- gar ihr Leben aufs Spiel setzen. Gleichzeitig bedarf es weiterer Anstrengungen, die Forschung zu Essstörungen weiterzuentwickeln, Therapien zu verbessern und für alle Helfenden und Betroffenen nutzbar zu machen.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
– sich für eine Selbstverpflichtung der Modeunternehmen und Modelagenturen einzusetzen, keine Werbeverträge mit untergewichtigen Models abzuschlie- ßen bzw. diese nicht in ihre Karteien aufzunehmen. Eine Orientierungshilfe können die von der us-amerikanischen Academy for Eating Disorders her- ausgegebenen und von der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen über- nommenen Richtlinien für Modelagenturen und die Modeindustrie bieten;
– eine Kampagne zu Essstörungen wie Magersucht und Bulimie zu starten, die auf die negativen Auswirkungen des Schlankheitswahns aufmerksam macht. Die Geschlechtsspezifik des Themas muss dabei eine zentrale Rolle spielen, da ein enger Zusammenhang zwischen Essstörungen und dem hohen Erwar- tungsdruck an die körperliche Attraktivität von Frauen besteht. Ein breites Feld von Akteurinnen und Akteuren ist in die Kampagne einzubeziehen. Die Bereiche Mode, Werbung und Medien stellen wichtige Kooperationspartne- rinnen und -partner dar, da durch sie Bilder geprägt werden, an denen sich Jugendliche orientieren;
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode– 3 – Drucksache 16/7458
– die Medien zu sensibilisieren: So sollten gerade Zeitschriften, die sich an Jugendliche wenden, die Themen Schlankheit und Schönheit kritisch be- leuchten. Statt Diäten vorzuschlagen, sollten sie vermehrt Informationen über Essstörungen, ihre Ursachen sowie Beratungs- und Behandlungsange- bote verbreiten;
– sich bei den Kommunen für deutlich mehr vernetzte Beratungsangebote für Betroffene und Angehörige einzusetzen;
– sich dafür einzusetzen, dass – in Kooperation mit Ländern, Kommunen, Krankenkassen, Patientenberatungsstellen und anderen – Angebote wie die aktuell durch die gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen des Modellpro- jekts Patientenberatung geförderte Homepage www.ab-server.de langfristig unterstützt werden und kostenlose Telefon-Hotlines eingerichtet werden, mit deren Hilfe Angehörige wie Betroffene sich einfach und anonym professio- nell beraten lassen können;
– sich bei den Bundesländern dafür einzusetzen, dass an den Schulen über die Themen gesunde Ernährung, Geschmacks- und Körperwahrnehmung, regel- mäßige körperliche Bewegung und Entspannungsmethoden Kindern und Jugendlichen schon früh ein positives Selbstbild zum eigenen Körper vermit- telt wird, die Anlaufstellen für Betroffene von Essstörungen bekannt gemacht und in die Schulen eingeladen werden;
– ein eigenständiges Werbungsverbot für „Wunderpräparate“ zur Gewichts- abnahme einzuführen, Verstöße schärfer zu sanktionieren und gemeinsam mit den Ländern für eine bessere Überwachung und Durchsetzung der gesetzlichen Verbote zu sorgen;
– für eine stärkere Sensibilisierung hinsichtlich der Erkennung und Behand- lung von Essstörungen in den Gesundheitsberufen und bei Ärztinnen und Ärzten einzutreten sowie dies in der Aus- und Weiterbildung stärker zu berücksichtigen;
– die Erstellung von Leitlinien für die Diagnose und Behandlung von Essstö- rungen zu unterstützen und voranzutreiben und sich für eine effektivere Nachbehandlung nach stationären Therapien einzusetzen;
– die Forschung zu verstärken und zu unterstützen, um z. B. für eine bessere Datengrundlage bei den verschiedenen Essstörungen zu sorgen oder die lang- fristigen Chancen auf Heilung zu verbessern.
Berlin, den 11. Dezember 2007
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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